Vorurteile

Es ist Sonntag Abend und ich sitze sehr müde im Zug nach Kreuzlingen. Meine Kopfhörer spielen leise Musik ab, während ich mühsam versuche Französisch Vokabeln in meinen Kopf zu bekommen. Ich bin die Erste, die im vorderen Teil des Zuges sitzt. Nach und nach steigen Leute ein. ich habe meinen Koffer zwischen die zwei grauweiss-gemusterten Sitzreihen gestellt, sodass ich meine Ruhe habe und mich auf meine 250 Vokablen, die ich bis am Dienstag können muss, konzentrieren kann. Eine ältere Frau in einer blauen Bluse setzt sich in das Abteil neben mir. Zwei Männer, die miteinander plaudern, steigen ein und nehme ein paar Sitzreihen hinter mir Platz. Kurz bevor der Zug abfährt, steigt eine kleinere, mittelalte Frau ein. Sie sieht etwas ungepflegt aus und ich danke mir, dass sie sich hoffentlich nicht in mein Abteil setzt. Ihre Dunklen Haare sind sehr voluminös und die vorderen Strähnen bändigt sie mit einem Haargummi am Kopfende. Sie hat einen touch rumänisches im Gesicht und mir kommt der Gedanke, dass sie ja eine Bettlerin sein könnte. Als sie platzgenommen hat, zieht sie aus ihrer braunen Ledertasche eine kleine rote Schachtel mit Pralinen hervor. Scherzhaft fragt der Mann im Nebenabteil sie, ob er auch eins haben kann. Zu seinem eigenen Erstaunen bietet die Frau ihm mit einem Lachen eines an. Dem anderen Mann war es doch peinlich und versuchte es mit einem lachen zu kaschieren und meinen es sei nur ein Witz gewesen. Die Frau jedoch erwidert freundlich, sie habe heute schon genug Kalorien zu sich genommen und ob der andere Herr auch eins möchte. Doch das war es noch nicht. Die Frau ging nun zu der alten Dame in der blauen Bluse und bot ihr ebenfalls eine kleine Praline an. Die Dame lehnte zuerst misstrauisch ab, doch de Frau liess nicht locker und schlussendlich griff die Dame doch zu. Sie ging weiter und fragte jeden im vorderen Teil des Zuges ob er auch noch eines haben möchte. Ich schaue die Dame in der blauen Bluse noch einmal an. Sie ist gerade dabei das kleine Stück Schokolade mit einem grossen Lächeln im Gesicht auszupacken und zu verspeisen. Den andern Fahrgästen, denen sie auch eines angeboten hat, geht es allen gleich. Ich bin selbst etwas , ja man kann schon fast sagen enttäuscht von mir, dass ich die Frau nur wegen meinem flüchtigen Blick, während sie an mir vorbeigelaufen ist, beurteilt habe. Was doch so kleine Gesten der Freundlichkeit an einem Sonntagabend im Zug Richtung Schaffhausen bewirken können.

Time

 

Mürrisch schlendert ein in blau gekleideter Sicherheitsmann neben mir vorbei und mustert mich desinteressiert.  An einem eisernen Geländer lehnend, frage ich mich, ob er mit seinem Bierbauch und seiner gemächlichen Gangart wirklich jemanden beschützen kann. Ich schaue auf, aber der gelangweilte Securitas ist nicht mehr in meinem Blickfeld, nur noch der Bahnhof mit seinen Geleisen, die wenigen Menschen, die laut flatternden Tauben und der mit quietschenden Rädern einfahrende Zug, aus dem Leute gestresst aufsteigen. Sehr wahrscheinlich dreht der Sicherheitsmann weiter gemächlich seine Runden.

Es ist 11.10 Uhr, was ich an der grossen, von der  eisernen Überdachung hängenden Uhr ablese. Auf ihr landen immer wieder Tauben, die wild umherflattern und nach Bröseln oder sonst etwas Essbarem Ausschau halten.

Um diese Zeit herrscht Flaute auf dem Bahnhof. Eine Gruppe von Männern, die meisten tragen verwaschene Hosen und willkürliche T-Shirts, lungern an den Stehtischen mit den ausgegilbten, blauen Frisco- Sonnenschirmen des Kiosks herum. Mit einem Billig- Bier in der Hand, unterhalten sie sich immer wieder oder stehen einfach nur da und beobachten. Sehr wahrscheinlich haben sie keine Arbeit und versuchen so irgendwie den Tag herumzukriegen, doch ich weiss es nicht und will keine voreiligen Schlüsse ziehen. Der Mensch bewertet und kommentiert sowieso alles, was etwas aus der Norm fällt oder nicht in seine Vorstellungen hinein passen.

„Entschuldigen Sie, können sie mir vielleicht helfen?“ Völlig perplex schau ich, noch in meine Gedanken versunken, auf. Ein älterer Herr mit Brille, Hörgerät, grün kariertem Hemd, beigen dreiviertel -Hosen, bunten Salomonschuhen und einem vollgepackten Rucksack steht vor mir und schaut mich erwartungsvoll an. Er zeigt auf den rotblauen Ticketautomaten, der zehn Meter von uns entfernt ist. „Ja klar, was kann ich für sie tun?“

„ Ich brauche bitte ein Ticket nach Münsterlingen. Ich sehe nicht mehr so gut und kann daher kein Ticket lösen. Könnten sie mir dabei behilflich sein?“ Ich drücke auf den Display und löse ihm eine Fahrkarte nach Münsterlingen- Spital. Während ich wieder in meine Gedanken versinke, bezahlt er seine Fahrkarte mit lauter kleinen Münzstücken die klappernd in die Münzöffnung fallen. Mehr zu sich selbst, als zu mir beschwert er sich über den zu hohen Preis der Tickets und den Ticketautomaten. Nachdem das Billett mit einem leisen surren aus dem Automat kommt, bedankt er sich höflich und geht strammen Schrittes davon.

Ich setzte mich etwas angeekelt auf ein breite Bank, die etwas klebrig ist. Der Boden ist voller vertrockneter Kaugummis und irgendwelche Flüssigkeiten.

Eine leichte Brise weht mir eine Haarsträhne ins Gesicht. Immer wieder brausen grosse Lastwagen vorbei und machen einen Heidenlärm. Ein kleiner VW Golf steht auf einem Parkplatz. Aus den heruntergelassenen Fensterscheiben dröhnt laute Hip-Hop Musik. Nicht viele Menschen treiben sich zu dieser Zeit am Bahnhof herum und die wenigen die hier sind, gehen mit zielstrebigen Schritten in sich gekehrt, ihren Weg. Ein Bahnhof ist so ein lebendiger Ort und doch gibt es fast keine spontane Unterhaltungen ausser hie und da mal ein „Entschuldigung, ich muss hier durch“. Jeder geht seinen Weg und achtet auf keine anderen. Fast alle haben entweder das Smartphone in der Hand, die Musikstöpsel in den Ohren oder rauchen ihre Zigarette, die sie ,bevor sie in den Zug einsteigen, achtlos auf den Boden werfen und sich wieder ihrem Handy widmen. Doch dabei muss ich mir selbst eingestehen, ich würde auch mit Kopfhörern und mit meinem Handy in der Hand unterwegs sein, um möglichst unauffällig und ohne Zeitverzögerung durch Unterhaltungen, an meinem Ziel anzukommen. Denn die Zeit läuft uns ja allen davon. Vor lauter Angst, dass ein kleiner Wortwechsel uns fünf Minuten stiehlt, vergessen wir, dass wir dadurch etwas viel wertvolleres als fünf Minuten gewinnen könnten.

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